Expert Views

Published on Nov 01, 2018

IBM schluckt Red Hat und riskiert seine Zukunft

  • Die angekündigte Akquise des Open Source -und Linux Spezialisten Red Hat durch IBM wird die Branche verändern.
  • Ist der 34 Mrd. Dollar Mega-Deal die richtige Kampfansage an die Cloud Hyperscaler oder übernimmt sich der Technologie-Gigant IBM womöglich daran?
  • Selbst unter den Crisp Research Analysten ist die Akquise kontrovers. Lesen sie zwei extreme Positionen.

IBM & Red Hat – Pro und Contra

IBM kauft für 34 Milliarden Dollar Red Hat. Das hört sich nach einem Mega-Deal an – allein schon wegen des enormen Kaufpreises. Damit wird sich die Tech-Industrie verändern, so wie sie es vor fast genau 10 Jahren durch den Kauf von SUN und damit Java durch die Firma Oracle getan hat. Hier herrscht sicher Einigkeit im Team der Crisp Research Analysten. Darüber hinaus ergeben die heutigen Fakten und die Marktsituation kontroverse Bewertungen durch die Crisp Analysten – vom “Game-Changer” bis zum “Risky Flop”. Während Einige sehr stark auf den Cloud-nativen, neuen Architekturen der drei Hyperscaler AWS, Azure und Google arbeiten, haben andere einen traditionellen Enterprise Software Background und viele hybride Architekturen oder Cloud Migrationen betreut. Wir möchten Sie als Leser deshalb einladen, in ein “Streitgespräch” zwischen Pro- und Contra-IBM Positionen unserer Analysten hineinzuhören. Aus den bewusst polarisierenden Meinungen kann man sich für jede Dimension des Mega-Deals eine eigene Meinung bilden und herausfinden, was es für das eigene Unternehmen bedeutet.

1. Die Finanzielle Dimension des Deals ist enorm. Mit 34 Mrd. Dollar ist die Kaufsumme für ein Unternehmen, das 2,9 Mrd. Dollar Umsatz macht, unverhältnismäßig hoch. IBM macht im Vergleich einen Jahresumsatz (2017) von 79 Mrd. Dollar mit einem Net-Income von 5,7 Mrd. Dollar. Red Hat kostet also ungefähr sechsmal so viel wie IBMs Gewinn. “Pro” und “Contra” sagen dazu:

  • Pro
    IBM möchte den größten Marktanteil in einem 1000 Mrd. Hybrid- und Public-Cloud-Markt haben. Das benötigt nicht nur in der Infrastruktur Investitionen, die IBM durch den Kauf von Softlayer Mitte 2013 gemacht hat, sondern auch im Software Stack. Der Deal bringt die Skaleneffekte eines Hyperscalers zu IBM und hilft damit sogar im Bereich Hybrid Cloud massiv zu wachsen. Wie IBM den Finanzanalysten vorgerechnet hat, generiert der Kauf offenbar innerhalb von 12 Monaten freien Cashflow und vergrößert damit den Ertrag der IBM. IBM kauft sich damit viel Umsatz.
  • Contra
    Der Deal erinnert eher an die 11 Mrd. Dollar, für die Hewlett Packard die Firma Autonomy 2012 gekauft hat. Milliardenschwere Verlust-Abschreibungen in den Folgejahren drückten HP in die Knie und waren der Beginn der Zerschlagung des Traditionsunternehmens. Der hohe Preis deutet auf eine Bieter-Auktion hin, bei der sich IBM nur kostspielig gegen die Konkurrenten durchsetzen konnte. Möglicherweise waren die Konkurrenten Amazon und Microsoft oder Alibaba im Spiel. Red Hat erwirtschaftet den größten Teil seines 2,9 Mrd. Dollar Umsatzes (64%) mit Infrastruktur-Software-Subscriptions. Dieses Segment kommoditisiert aber am schnellsten und wächst heute nur noch 8%.

Red Hat Infrastructure beinhaltet Red Hat Linux, Red Hat Satellite, ein System Management Produkt und Red Hat Virtualisierung. Die App-Dev-Kategorie vereint die Red Hat JBoss Middleware, die Emerging Technologien die Red Hat OpenShift, Red Hat Cloud Infrastructure inklusive CoreOS, Red Hat OpenStack und Red Hat Ansible Automation. Quelle: Red Hat, Q2 FY 2019 Financial Report.

2. Das Produkt-Portfolio von IBM und Red Hat passen doch gut zusammen? Red Hat’s Infrastruktur und Middleware Software werden ja heute schon sehr stark von IBM in Projekten verwendet und vertrieben.

  • Pro
    IBM hat inzwischen auf all seiner Hardware Red Hat Linux zumindest als eine Option am Laufen. Auch Openshift und Openstack werden sehr intensiv von IBM in Kundenprojekten verwendet. Red Hat’s leichtes “Container Linux” CoreOS und auch der Beitrag von Red Hat in der Kubernetes Community passen gut zur modernisierten Cloud-Strategie von IBM. IBM bekommt zusätzliche Produkte, die reibungsfrei an ihre Kunden verkauft werden können.
  • Contra
    Der stark wachsende Teil der Application Development und Emerging Technologies passen teilweise gar nicht zu IBM. Die ganzen Middleware-Produkte aus der JBoss-Familie stehen in direkter Konkurrenz zu der IBM-WebSphere-Familie. JBoss konnte viele Kunden nicht nur technisch sondern auch durch günstigere Preise überzeugen. Auf der Cloud Management Seite hat Red Hat das Produkt Openshift und IBM engagiert sich gleichzeitig mit dem konkurrierenden Cloud Foundry. IBM hat im Rahmen des Deal angekündigt OpenShift auf allen Major Clouds verfügbar zu machen. Alles in Allem eine teure Strategie, bei der einige IBM Kunden zu den günstigeren Red Hat-Produkten wechseln werden.

3. IBM Managed Services sind einer der Marktführer für Hybrid Cloud Management. Keine Frage, das Crisp Research Vendor Universe zeigt IBM als einen der Accelerators in der Managed Hybrid Cloud-Dienstleistungskategorie. Aber wird der Marktanteil durch die Übernahme von Red Hat größer und kann sich IBM besser gegen die Hyperscaler (AWS, Azure, Google Cloud Platform) positionieren?

  • Pro
    Kunden möchten nicht zu viele Lieferanten. Deshalb hilft der Red Hat Deal, eine Mischung von Clouds mit einem Lieferant weniger zu managen. IBM schafft es mit dieser Präsenz auch seine IBM Cloud-Infrastruktur-Dienste besser gegen AWS, Azure und Google zu positionieren.
  • Contra
    Früher haben Unternehmen Hardware und Software von verschiedenen Herstellern gekauft, um zu große Abhängigkeiten zu vermeiden. Heute kaufen sie die Hyperscaler Public Cloud-Infrastruktur und den Managed Service von unterschiedlichen Herstellern. Unternehmen können genauso einen Dienstleister wie Accenture, der gar keine eigenen Infrastruktur Dienste anbietet, als unabhängigen Management Provider ihrer hybriden Umgebung auswählen.

4. IBM hat durch die Akquise einen besseren Zugang zu Red Hat als bisher. Ein Kunde, der beispielsweise mit Red Hat Produkten eine private Cloud mit OpenStack, OpenShift und natürlich Red Hat Linux aufgebaut hat, bekommt von IBM bessere Dienstleistungen als von einem anderen Managed Service Provider für diesen Stack.

  • Pro
    Klar, die Wege in einem Unternehmen sind kürzer als zwischen Partnern. Das hilft IBM Managed Services Deals zu bekommen.
  • Contra
    IBM und Red Hat arbeiten seit Jahren eng zusammen. Das kann die Übernahme kaum noch verbessern.

5. Wenn die Zukunft für neue Anwendungen “Cloud-native” ist, stellt sich IBM hier neu auf? Cloud-native ist die Art, Anwendungen anstelle als ganzen Software Stack jetzt aus der Orchestrierung von Plattform-Services und Infrastruktur-Services wie Containern auf Kubernetes zusammen zu setzen. Das Portfolio solcher Plattform-Services wächst zur Zeit bei den Hyperscalern massiv.

  • Pro
    IBM wird mit den starken Cloud Technologien aus dem Red Hat Portfolio ein attraktiverer Technologie-Stack-Anbieter für die Entwicklung Cloud-nativer, neuer Anwendungen, besonders in hybriden Umgebungen.
  • Contra
    Der Konkurrenzkampf für Cloud-native Infrastruktur sieht anders aus. Auf dem unteren Level der cloud nativen Infrastruktur-Dienste geht es nur um Preis und Zuverlässigkeit. Preis ist eine Disziplin in der IBM nicht leicht punkten kann. Auf den höheren Plattform-Diensten wie Messaging, Machine Learning und Artificial Intelligence oder Blockchain, ist die Innovationsgeschwindigkeit und Verfügbarkeit als Public Cloud Service entscheidend, um Application Developer zur Nutzung der Dienste zu überzeugen. Hier können die Portfolio Elemente von Red Hat aber kaum helfen.

6. Wird IBM zum einzigen Hybrid Cloud Provider mit so einem umfangreichen Portfolio? Keine Frage, die anderen Anbieter von Managed Hybrid Cloud Services haben nicht so ein großes und diversifiziertes Produktportfolio wie IBM. Wird IBM damit zur ersten Wahl für Unternehmen, die Teile ihrer Anwendungen in der Public Cloud und andere Teile on-premises halten wollen?

  • Pro
    Keiner der Hyperscaler kann einen umfangreicheren Service als IBM bieten. Dank des Red Hat Deals, der IBM die Türen zu allen privaten Rechenzentren öffnet in denen Red Hat Linux läuft, können sie ihre Produkte und Dienstleistungen positionieren.
  • Contra
    Auch die Hyperscaler haben inzwischen Hybrid verstanden. Microsoft hat den Azure Stack und Google Kubernetes on-premises. AWS hat zumindest für IoT-Szenarien schon Hybrid Edge/Cloud Software (AWS Greengrass). Alle Drei Hyperscaler bringen ihre Netze inzwischen nahtlos und zu Kampfpreisen in die Unternehmensnetze ein (Azure ExpressRoute, AWS Direct Connect, Google Interconnect).

7. Seitdem Oracle Java besitzt, ist die Innovationsgeschwindigkeit deutlich nach unten gegangen. Ist Linux jetzt “auch” tot? Nach der Übernahme von Sun und damit von Java durch Oracle 2010 wurde der Java Community Process immer schwerfälliger und weniger innovativ. Kann IBM die Gefahr bei Linux bannen?

  • Pro
    IBM ist einer der erfolgreichsten kommerziellen Open Source Contributors. Kaum ein Unternehmen außer der Open-Source-fokussierten Red Hat selber und inzwischen Google hat es geschafft so viel Open Source in die Community abzugeben und gleichzeitig kommerzielle Geschäftsmodelle darum zu entwickeln. Außerdem gibt es neben Red Hat noch weitere Linux Distributionen wie Suse und viele Derivate für bestimmte Zwecke wie IoT Edge Computing. Linux ist also nicht von Red Hat alleine abhängig.
  • Contra
    Linux könnte genauso wie Java in der Zukunft scheitern. Innovationsgeschwindigkeiten und Lizenz-Streitigkeiten bedrohen die Verbreitung. Die größte Zahl von “Human-Endpoints” stellen inzwischen mobile Endgeräte mit Android dar. Heute ist Android auf Linux basiert. Aber genau aus den genannten Gründen baut Google sein nächste Betriebssystem Fuchsia vollkommen Linux-frei auf einen Mikrokern namens Zircon. Schon “bald” – in Relation zu einer 34 Milliarden Investition – führen nicht nur mobile Geräte, sondern auch leichtgewichtige Container in der Cloud ihren Code auf nativen Microkernels aus – ganz ohne Linux.

Red Hat’s Goto-Market ist heute mit 77% auf Partner fokussiert. Quelle: Red Hat, Q2 FY 2019 Financial Report

8. IBM hat mehr Sales-Leute auf der Welt als irgendein Technologieunternehmen. Damit wir der Red Hat Umsatz erheblich steigen. Geht das Modell wie bei den meisten anderen Akquisen auf?

  • Pro
    Red Hat’s Kerngeschäft ist Enterprise Infrastruktur Software. Hier hat IBM mit dreißigmal so vielen Mitarbeitern wie Red Hat den klassischen Sales-Zugang besser als irgendein Unternehmen weltweit. Damit wird IBM den Marktanteil der Windows-Server on-premises weiter zurückdrängen können. Und das sowohl auf IBM/Lenovo oder beliebiger Intel-kompatiblen Hardware.
  • Contra
    IBM ist schon heute Red Hat’s größer Reseller und hilft mit Red Hat’s Cloud Deployments zu vermarkten. Die Akquise kann das kaum verbessern.
    Zudem sind 88% des Red Hat Umsatzes Subscriptions. Der klassische IBM Enterprise Sales denkt aber immer noch in Lizenzen oder großen Volumen-Deals. Außerdem steht IBM zu sehr vielen bisherigen Red Hat Vertriebspartnern in direkter Konkurrenz. Einige werden ihre Prioritäten verschieben.

9. IBM weiß wie man Firmen integriert. IBM hat Akquisitionen bewußt eingesetzt um Innovation ins Portfolio zu bringen. Lange Zeit wurden jedes Jahr 10 bis 14 Firmen gekauft. Nach einer Pause diese Jahr ist die Red Hat Akquise der teuerste Zukauf in IBM’s M&A-Geschichte und mit ca. 12.600 Mitarbeitern auch eine Integrations-Herausforderung. Ist IBM auch hier erfolgreich mit dem “Blue-Wash”?

  • Pro
    IBM versteht es innovative Mitarbeiter von kleinen Firmen lange im Unternehmen zu halten. Dies ist besonders wichtig für die erst kürzlich von Red Hat gekauften Unternehmen wie CoreOS.
  • Contra
    Bei der Größenordnung muss IBM über ein anderes Integrationsmuster nachdenken. Man erinnere sich an die Akquise von Softlayer in 2013. Zu dieser Zeit bastelte Microsoft vollkommen planlos an Windows Servern On-demand und Steve Ballmer verglich Open Source mit einem Krebsgeschwür. Softlayer hätte technologisch und mit dem Backing von IBM die Chance gehabt heute so groß wie Microsoft’s Azure zu sein. Doch die Integration in die alten IBM Managed Services Division hat das Wachstum ausgebremst, so dass wir heute IBM nicht zu den Public Cloud Hyperscalern zählen können.

10. Die IBM Strategie steht auf sicheren Füßen. Über Jahrzehnte ist ein Konzern mit einem reichhaltigen Portfolio entstanden. Auch nachdem ein Teil der Hardware an Lenovo abgespalten wurde, ist das Hardware-, Software-, Cloud Services- und Managed Services-Angebot riesig.

  • Pro
    IBM hat sich über Jahrzehnte immer wieder neu erfunden und ein ausgewogenes Portfolio geschaffen, das liefert, was mittlere und große Unternehmen brauchen.
  • Contra
    Die teure Akquise könnte selbst diesen Gigant zum Wanken bringen, wie es zunächst Hewlett Packard und jüngst General Electric passiert ist. Nur ein massiver Kulturwandel, ähnlich wie es Satya Nadella bei Microsoft gelungen ist, kann IBM die Zukunft sichern. Verpasst IBM die Chance, bleibt nur noch eine Last-Man-Standing Strategie, die wie eine gigantische Mischung aus ATOS und CA Technologies (vorm. Computer Associates) aussehen würde.

Die aktuelle Analyse von IBM nach der Ankündigung der größten Akquise in der Firmengeschichte ist also extrem kontrovers. Der Markt und IBM’s Taktik in den nächsten sechs Monaten bis zum Abschluss der Übernahme werden bestimmt die Sicht auf unsere 10 Streitpunkte noch einmal verschieben.

Bis dahin müssen sich Red Hat Kunden kaum Sorgen machen. Auch wenn IBM das eine oder andere Produkt, vor allem aus der Red Hat Middleware Familie abkündigen sollte, wird dies noch zwei bis drei Jahre dauern. Außerdem findet sich für Open Source-Produkte viel leichter als für Closed Source, auch nach offiziellen Support-Ende, immer noch eine Möglichkeit Maintenance zu kaufen.

Auch IBM-Kunden müssen sich sicher wenig kurzfristige Sorgen um Big Blue machen. Langfristig muss der Konzern aber massiv am Umbau arbeiten um in der nächster Entwickler-Generation immer noch attraktiv zu erscheinen. Akquisen – egal wie groß – reichen dazu nicht.