Expert Views

Published on May 18, 2017

Industrie 4.0-Hype blockiert IoT-Innovationen und digitale Produkte

  • Die Hannover Messe hat es bestätigt: Die Deutsche Industrie ist im “Industrie-4.0-Hype”
  • Trotzdem übersehen CEOs, Innovationsmanager, CIOs und Unternehmensstrategen eine der größten Opportunities – Die Innovation mit IoT Geschäftsmodellen
  • Der Crisp Analyst View gibt praktische Hilfe, die Innovationsmodelle im Unternehmen zu klassifizieren und die Industrie 4.0-Falle zu vermeiden

Deutschland hat eigentlich die besten Voraussetzungen Innovation im IoT Bereich hervorzubringen. Ein Land voller Tüftler und Erfinder, das es sich wirtschaftlich auch leisten könnte Innovationen hervorzubringen, also Erfindungen, die es auch auf den Markt schaffen. Aber woran liegt es, dass gerade Amazon’s Alexa und Google’s Home mit smarten Devices, Spracherkennung und ein wenig AI im Backend den Markt aufrollen, während man mit dem Sprach-Interface in aktuellen, deutschen Oberklasse Limousinen nicht einmal eine Pizza bestellen kann, die am Ende einer Fahrt gleichzeitig zuhause ankommt?

Obwohl inzwischen fast jeder in der Branche über Industrie 4.0 spricht, kommt kaum etwas an gefühlter Innovation bei Endkunden an. Die digitalen Produkte, die erfolgreiche physische ergänzen, fehlen vollkommen. Woran liegt das? Crisp Research stellt die These auf, dass es gerade daran liegt, dass die deutsche Industrie (nur) über Industrie 4.0 und nicht allgemeiner über IoT spricht.

Auch wenn die Akteure hinter der deutschen Industrie 4.0 Initiative grundsätzlich schon den ganzen Lifecycle eines Produktes im Auge haben, ist das Verständnis von Industrie 4.0 Szenarien in der Breite vollkommen auf die nächste Generation der industriellen Fertigung fokussiert. Das Industrial Internet Consortium in den USA hat da einen besseren Job gemacht, als die Forschungsunion und das Industrie 4.0 Projekt im Rahmen der Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung.

Die deutsche Industrie (Acatech, VDMA, ZVEI und auch die Bitkom) muss dringend digitale Geschäftsmodelle, Produkte und Innovationen verstehen. Die wichtigsten haben mit ihren erfolgreichen physischen Produkten zu tun, egal ob es Autos, Waschmaschinen oder andere High-Tech-Produkte sind. Im Detail sollte ein Chief-Digital-Officer oder Chief-Innovation-Officer diese Impulse verfolgen:

  • Industrie 4.0 Initiativen WENIGER Priorität einräumen! Lehnen Sie sich nicht zurück, wenn ihr Unternehmen Industrie 4.0 Initiativen gestartet hat. Dies bringt möglicherweise die industrielle Fertigung auf einen neuen Level, liefert aber in den meisten Fällen keine digitalen Produkte mit neuen, fortlaufenden Subscription- Umsätzen.
  • Digitale Produkte und Geschäftsmodelle verstehen. Viele Branchen inklusive der Automotive Industrie haben immer noch ein Problem den neuen After-Sales Markt zu verstehen. Während es früher darum ging möglichst viele Original-Ersatzteile an die Händler und Werkstätten zu verkaufen, geht es heute um Kundenbindung, um fortlaufende Umsätze digitaler Produkte direkt zwischen dem Hersteller und dem Endkunden oder Business User.
  • Ökosystem-Landschaft verstehen. Industrie 4.0 bringt an vielen Stellen tatsächlich einen signifikanten Durchbruch bei der Wertschöpfung innerhalb des Hersteller-Ökosystems von Zulieferern, Produzenten und Sales Channel. Es ist aber kaum hilfreich beim Verständnis des Kunden-Ökosystems. Mobile Device Anbieter wie Apple erwirtschaften binnen ca. 2,5 Jahren mit den Subscriptions wie Cloud-Storage, Musik Streaming oder third-party Subscription-Royalties noch einmal den gleichen Umsatz wie für das eigentlich Device! Bei einem Handy sind Kunden bereit Geld für Subscription auszugeben, weil es zum Beispiel die einfachste Möglichkeit ist Bilder oder Musik mit Freunden zu teilen. Warum kann mein Auto nicht einmal meinen Freunden mitteilen, welches heute die günstigste Tankstelle ist oder nachfolgende Fahrzeuge vor einem Schlagloch oder Aquaplaning warnen? Das wäre Wertschöpfungen zwischen Kunden.
  • Kunden- und Hersteller-Ökosysteme vernetzen. Gerade im After-Sales von technologisch komplexen Produkten ist eine Interaktion zwischen dem Kunden und Hersteller-Ökosystem essentiell. So möchten Kunden nicht nur von anderen Kunden gerne erfahren wo sie guten Service bekommen, Anbieter sollten auch viel mehr Kunden in die Definition oder Verbesserungen zukünftiger Produkte einbeziehen. Obwohl viele moderne Autos inzwischen Sprach-Interfaces haben, gibt es immer noch keine Möglichkeit einfaches Produkt-Feedback über diesen Kanal an den Hersteller zu senden.

Achtung Fake Industrie 4.0!

Neben dem Verständnis der subscription-basierten Geschäftsmodelle und Ökosysteme sollte Innovationsmanager besonders in deutschen Firmen für ihre Industrie den Zusammenhang zwischen den möglichen Innovationsmodellen und dem finanziellen Benefit analysieren. Crisp Research hat eine Vielzahl der kürzlich auf der Hannover Industriemesse präsentieren Geschäftsmodelle und Innovationen klassifiziert.

Dabei hat sich folgender Zusammenhang zwischen Innovationsmodellen und Geschäftsmodellen herausgestellt:

  • Echte Industrie 4.0 Innovation. Dabei handelt es sich hauptsächlich um industrielle Fertigungsprozesse in einer “digital factory”, die wirklich die “Information” als Differentiator benutzen; so wie es von den ursprünglichen Industrie 4.0 Vordenkern gegenüber der 3. industriellen Revolution, der digitalen Automatisierung, auch gedacht war. Viele Industrie 4.0 Szenarien bringen zum Beispiel die Zusammenarbeit der Lieferanten mit einem Produkthersteller durch den Informationsfluss auf eine bisher undenkbare Level. Im idealen Industrie 4.0 Szenario ist das eben eine disruptive (sprunghafte) Veränderung. Der überwiegende Teil der Industrie 4.0 Innovationen hat sich jedoch darauf fokussiert ein Produkt in bisher unmöglichen Qualität noch günstiger herzustellen. Der Wertbeitrag ist “nur” eine Verbesserung der Marge und bleibt für den Endkunden verborgen.
  • Fake-Industrie 4.0. Wie auch schon vom Bitkom Verband letztes Jahr analysiert, verdient ein großer Teil der angeblichen Industrie 4.0 Innovationen höchsten den Label Industrie 3.5. Eine kontinuierliche Vertiefung der Automatisierung innerhalb eines Unternehmens hat wenig mit Industrie 4.0 zu tun. Nur wenn eine bessere Wertschöpfung zum Beispiel dadurch erreicht wird, Informationen transparent entlang der Supply Chain zu teilen – und eben nicht nur, wie bisher im eigenen Unternehmen – dann kann man einen disruptiven Innovationseffekt erreichen.
  • Echte IoT Innovation – Sichtbar für Kunden und Umsatzsteigerung für Anbieter. Die spannendsten, aber in Deutschland leider viel zu seltenen Innovationen, haben große Kunden-Sichtbarkeit. Sie stellen neue, digitale Produkte mit neuem Umsatzpotential dar und sind natürlich disruptive Innovationen. Die meisten IoT-Errungenschaften aus den USA folgen dem Muster, aber auch Gründer in Deutschland, wie beispielsweise die Block-Chain basierte Elektroauto-Ladesäule, die eine bisher unmögliche Flexibilität im Car-Sharing ermöglicht.
  • Traditionelle Business Expansion ist technologie-agnostisch. Die kontinuierliche Erschließung neuer Märkte im Rahmen der Globalisierung bringt für das einzeln Unternehmen sehr wohl eine Umsatzsteigerung, auch wenn es in den meisten Fällen keine sprunghafte Veränderung oder Innovation darstellt und IoT dazu beiträgt, wie jede andere Technologie.

Innovationsmanager deutscher Firmen müssen sich also stets die Frage stellen, in welchem Innovationsmodell sie eigentlich agieren möchten und ob sie es sich leisten können die echte IoT Innovation zu ignorieren? Ein cooles IoT Projekt startet mit dem Businessplan, oder einem Design Thinking Workshop und NICHT mit der Analyse der heutigen Fertigungsprozesse, wie zu viele Industrie 4.0 Projekte, die dann zu oft als Fake-Industrie 4.0 enden.

Crisp Research konnte auf der Hannover Industriemesse sehr wenige Industrie 4.0 Beispiele finden, die es geschafft haben auch eine Topline Contribution zum Firmenerfolg zu leisten. Beispiel sind die Industrie 4.0-basierten Mass-Customization Szenarien. Dabei agieren Hersteller, die bisher große Stückzahlen identischer Produkte, meist in einem B2B-Channel verkauft haben, plötzlich in einer direkten Kundenbeziehung herunter bis zur Losgröße 1. Eine ziemlich sprunghafter Veränderung des Geschäftsmodells und sicher nur möglich, wenn die Fertigung einen echten Industrie 4.0-Reifegrad erreicht.

Die meisten disruptiven Innovationen bringen im Moment jedoch neue Geschäftsmodelle mit IoT Technologie auf den Markt, die überhaupt nichts mit industrieller Fertigung oder Industrie 4.0 zu tun haben. HIER liegt das Potential, das im deutschen Industrie 4.0 Hype weitgehend verschlafen wird.